content_menu_tooltip
resizing stage
resizing stage

kontakt


name
email

ja, ich möchte den email newsletter
text

abschicken
zurückvor

1378(km): Gewinnen kann man nur, wenn man nicht schießt.

Pünktlich, wenn sich (heute) der Tag der Deutschen Einheit zum 20. Mal jährt, wollte der Karlsruher Medienkunststudent Jens Stober sein Spiel »1378(km)« veröffentlichen. Der Ego-Shooter ist im Jahre 1976 rund um die deutsch-deutsche Grenze angesiedelt. Die Half-Life 2-Mod hat einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Es ist sogar schon zu einer Anzeige gekommen. Jetzt ist die Veröffentlichung aufgrund des hohen medialen Drucks verschoben worden.


Bei dem Spiel handelt sich um einen Shooter, in dem bis zu 16 Spieler online gegeneinander spielen – entweder auf der Seite der »Grenzsoldaten« oder der »Flüchtlinge«.


Die Entscheidung Stobers, einen Shooter über die deutsch-deutsche Grenze zu machen, ist sehr heikel. Er hat sich auf dünnes Eis begeben. Andere Spiele mit ernsten Themen wie über den 11. September, den Amoklauf von Columbine, die Belagerung von Waco und sogar die Deportation der Juden durch die Nazis haben alle emotionale Kontroversen ausgelöst, die teilweise noch anhalten.


Die Angehörigen der Opfer der Todesgrenze fühlen sich teilweise verletzt. Liest man sich diverse Kommentare in Foren zu dem Thema durch, stellt man schnell fest, wie sehr die Emotionen in diesem Fall hochkochen. Die BILD-Zeitung bezeichnet das Spiel als »widerwärtig«.


Aber worum geht es eigentlich bei 1378(km)? Was ist die Intention des Autors?


Das Regelwerk und das Gameplay von 1378(km) werden von Computerbild Spiele in einem sachlichen Artikel wie folgt beschrieben:


»Das Programm versetzt den Spieler an diverse innerdeutsche Grenzabschnitte im Jahr 1976. Dort lässt sich wahlweise die Flucht aus der DDR nachspielen oder als Grenzsoldat auf die Jagd nach Republikflüchtlingen gehen. Schießen oder verhaften, flüchten oder sich ergeben, töten oder im Todesstreifen getötet werden – das Spiel soll nach Worten Stobers möglichst präzise die damalige Situation und geschichtliche Wirklichkeit widerspiegeln.


Zu den Spielsituationen gehören Verhaftung und Gefängnis für den Flüchtling, Auszeichnungen für die Grenzsoldaten oder aber – wenn der Grenzer mehr als dreimal schießt und Flüchtlinge tötet – auch Mauerschützenprozesse im Jahr 2000. Ein Punktesystem soll politische und soziale Aspekte berücksichtigen: Gibt es zu viele Tote an der Grenze, steigt der politische Druck auf die DDR und die Punkte auf dem Konto der Grenzsoldaten verringern sich. Verschont er den Flüchtling, sammelt er Zähler.«


Der Spiegel schreibt: »Der 23- Jährige hat zahlreiche Denkanstöße in das Spiel eingebaut. Wahlloses Herumballern ist nicht vorgesehen. Entscheidet sich der Grenzsoldat zum tödlichen Schuss, wird er zwar vom DDR-Regime mit einem Orden ausgezeichnet, gleich darauf jedoch ins Jahr 2000 teleportiert: Dort wird ihm ein Mauerschützenprozess gemacht. Der Spieler ist zwischen 30 und 60 Sekunden aus dem Spiel genommen - und hat Zeit zum Nachdenken.«


Das Spiel ist als Serious Game konzipiert und operiert mit dem Mechanismus, den Ian Bogost als »procedural Rhetoric« beschrieben hat. Michael Liebe schreibt dazu: »Der Gamedesigner und Medienphilosoph Ian Bogost hat im Zusammenhang mit Serious Games – also Computerspielen mit einem Lernziel über die reine Unterhaltung hinaus – ein Modell der prozessbasierten  Rhetorik, der sogenannten procedural Rhetoric entwickelt. Dank ihrer Stärke nicht nur audiovisuell zu repräsentieren, sondern auch Verhaltensweisen simulieren zu können, haben nach Bogost Computerspiele die Kraft beispielsweise politische oder soziale Zusammenhänge über konkrete Erfahrungen im Spiel zu verdeutlichen und kritisch zu thematisieren.« [1]


Das Rektorat der Hochschule steht zu ihrem Studenten und hat eine Stellungnahme veröffentlicht, in der sie dem Projekt »hohen moralischen und künstlerischen Anspruch« bescheinigt. In dem Text der Rektoren Sloterdijk, Albus und Hochmuth auf www.hfg-karlsruhe.de stehen folgende Worte:


»Das Computerspiel ›1378(km)‹ vermittelt die Brutalität einer Grenze, die von einem undemokratischen Regime gegen seine Bürgerinnen und Bürger errichtet wurde, es verharmlost diese aber in keiner Weise. Damit sensibilisiert das Spiel gerade eine junge Generation, die die innerdeutsche Grenze aus eigener Anschauung nicht kennen kann, für die Opfer von Todesstreifen und Schiessbefehl und für das Unrecht, das Menschen durch die Grenze und an der Grenze zugefügt wurde. Nichts anderes ist das Ziel dieses Spiels, das aus unserer Sicht einen hohen moralischen und künstlerischen Anspruch vertritt.«


Jens Stober selbst hat auch eine Stellungnahme veröffentlicht. In der heißt es: »Im Computerspiel habe ich – anders als beispielweise in einem Dokumentarfilm – selbst die Kontrolle über mein Verhalten und meine Reaktionen auf in Echtzeit stattfindende und sich verändernde Situationen. Das Spiel 1378(km) zwingt in der Rolle des ›Grenzsoldaten‹ nicht, ›Flüchtlinge‹ zu erschießen. Es lässt Wahlmöglichkeiten. Gewinnen kann man bei 1378(km) nur, wenn man nicht schießt.«


Das Spiel zwingt, nicht zum Erschießen von Flüchtlingen aber es zwingt zur Handlung [2]. Die Qualität der Handlung liegt in der Entscheidung der SpielerInnen. In diesem Sinne: Bitte nicht schießen!


[1] Michael Liebe, Vor dem Spiel ist in dem Spiel. Computerspiel-Kunst zwischen Apparat und Aktion. In: Stephan Schwingeler und Ulrike Gehring [Hrsg.]: The Ludic Society – Zur Relevanz des Computerspiels. Kritische Berichte. 2/2009. S. 65

[2] »Without the active participation of players and machines, video games exist only as static computer code. [...] Video games are actions. [...] One plays a game. And the software runs.« Alexander R. Galloway, Gamic Action, Four Moments, In: Alexander R. Galloway, Gaming. Essays on algorithmic culture, Minneapolis, 2006, S. 2